Sonntag, 29 Januar 2012 [Woche 16]
by XShipper
Die schwarze Woche

ich weiß, du bist dafür da, damit ich mich dir anvertrauen kann. Und ich weiß auch, dass ich eigentlich einen liebevollen Mann an meiner Seite habe, dem ich auch dieses Vertrauen entgegen bringen sollte... und doch kann ich es nicht. Stattdessen irre ich meist im Schlafzimmer auf und ab, vergrabe mich in meinen Gedanken und will ihnen doch sogleich entfliehen. Ich bin einfach verwirrt und stehe irgendwie neben mir. Das ist ganz klar nicht MEINE Woche gewesen!

Dafür aber die von meinem Strahlemann, dem Superkoch! In der Zeit vor Weihnachten war er ja nur in der Küche damit beschäftigt, delikate Neuigkeiten zu kreieren. Er sagte damals selbst, dass ohne Phantasie es keine Qualität gäbe. Und das Niveau im „12 Apostoli“ war vor der Übernahme schon sehr hoch, sodass ihn das besonders forderte, vor allem aber reizte… meine Nerven aber auch. In Italien entdeckt er auf jedem Markt und in jedem Bioladen neue Inspirationen – sein kleines Rezeptbuch hat schon Zuwachs bekommen, da es bereits aus allen Bindungen platzte. Für ihn bietet ihn dieses Land mit seinen Traditionen und südlichem Flair viele neue kulinarische Möglichkeiten, die er gar nicht abwarten kann auszuprobieren. Einem großen Schritt näher kam er diese auf sehr überraschende Weise, an die wir gar nicht mehr gedacht hatten.

Der ganze Tag wurde fast nur an der Telefonleitung verbracht, denn vor lauter Stolz hätte Robert diese Neuigkeit am liebsten in die weite Welt hinaus geschrien. Zuerst hatte am frühen Morgen Debbie angerufen, da sie auf dem Weg zur Uni eines ihrer Magazine gelesen und dort in einem dieser den Artikel über jenen Sternekoch entdeckt hatte, dessen Restaurant vor einiger Zeit getestet und im Vergleich mit den Bestnoten abschnitt. Gerade seine neuen Kreationen nach modern-italien-Art brachten den Erfolg. Auch bei den Gästen des Ristorante gingen sie ja weg wie warme Semmel. Robert jedenfalls war so überschwänglich, dass er noch mit dem Handy am Ohr auf unser Bett sprang und mir die Decke klaute, um mir diese freudige Nachricht zu erzählen. Auf der anderen Leitung hörte ich Debbie lachen. Ich war noch im Halbschlaf und hatte zuerst gar nicht verstanden, was er ständig mit „das müssen wir feiern, Eva, komm schon, das muss einfach gefeiert werden“ meinte… bis ich endlich schlau aus ihm wurde. Natürlich bin ich auch stolz auf ihn, aber vor allem erleichtert, dass sich die nächtlichen Grübeleien und vor allem die eingesaute Küche ausgezahlt haben. Denn durch diesen Restauranttester ist mein Schatz seinem nächsten Koch-Stern einen großen Schritt näher gekommen. Und das musste er natürlich jedem erzählen, den er an die Strippe bekam. Das Schöne war, wieder vertraute Stimmen zu hören, als er endlich seinen Vater erreicht hatte. Aus der alten Heimat ein paar Grüße zu bekommen, ließen mich den ganzen Trubel des Tages vergessen. Und wer weiß, vielleicht kommen Werner mit Anhang tatsächlich mal zu Besuch – irgendwann. Valentina wird sich sicherlich über ihren Opapa freuen! Am Abend haben wir die Sause steigen lassen und zusammen mit den Gästen angestoßen. Für die große Feier wollte Robert am Wochenende auf dem Putz hauen. In Partystimmung kam ich jedoch nicht wirklich.

Was dann folgte, geschah eigentlich vor einem Jahr! Zuerst hatte ich gehofft, mich würde das nicht so sehr mitnehmen. Dass ich den Verlust von Pünktchen, wie Robert es immer so süß nennt, verarbeitet hätte, davon war ich der felsenfesten Überzeugung. Und doch hatte es mich an jenem Tag dermaßen umgeworfen und mitgenommen, wo ich ohne jegliche Vorwarnung in ein tiefes, dunkles Loch stürzte. Es war ein rabenschwarzer Jahrestag, an dem Robert und ich symbolisch unser verlorenes Kind zu Grabe trugen. Wir hatten nichts dergleichen am Fürstenhof, und selbst wenn, ist es für eine stille Andacht eh zu weit weg, um trauern zu können. Selbst Robert seine Miriam ist für ihn nicht greifbar, was ihn immer wieder leidtut, wenn er gen Himmel schaut. Daher hatten wir beschlossen, wir erschaffen uns hier in Verona einen kleinen Ort der Trauer. Für diesen Tag kam extra Carlo ins Restaurant und übernahm freundlicherweise Roberts Schicht.

Letztlich zog es uns da hin, wo einst alles Vergangene endete und alles Neue begann. Bei Gianni und Tiziana auf dem Gelände haben wir uns ein kleines Plätzchen gesucht und unseren ganz eigenen Ort für unseren Herzschmerz entstehen lassen. Hier oben auf dem Hof fühlen wir uns einfach dem Himmel und jenen, die nun da oben sind, ein Stückchen näher! Bis tief in die Abendstunden hinein saßen wir in eine Decke eingekuschelt zusammen, wurden weitestgehend von den anderen in Ruhe gelassen nachdem wir Valentina haben reinbringen lassen und bestaunten ganz unter uns die aufleuchtenden Sterne. Irgendwann entdeckten wir zwei, die eng beieinander standen und uns regelrecht anfunkelten. So kam Robert auf einen herzerweichenden Vergleich: Während ich seither für Valentina da bin, passt nun Miriam passt auf Pünktchen auf. Dies war ein sehr tröstender Gedanke. Der Abend war schön und die Nachtluft klar, wenn auch sehr kalt. Ich kann es nicht genau erklären, aber die Dunkelheit hieß ich sehr willkommen.

Wir bedankten uns bei unseren italienischen Freunden für Alles und für das Babysitten, nahmen unsere süße Bambina wieder an uns und fuhren heim. Erst als wir zuhause waren, bröckelte allmählich meine Fassade. Ein innerliches Zittern ergriff mich, da half auch keine heiße Dusche mit Robert. Dabei kam es mir schon vor, als hätten wir Stunden unter dem glühenden Wasserstrahl zugebracht. Ich hatte mich dann an seine starke Brust geschmiegt, wurde von ihm umarmt, dann und wann nochmal von ihm geküsst, aber meine Tränen gingen im nassen Strom unter. Auch danach, als wir Valentina mit zu uns in Bett geholt hatten, war ich innerlich so aufgewühlt, dass ich schon Angst hätte, die Kleine würde das spüren und davon wach werden. Aber sie schlief wie ein Engel in unserer Mitte – für sie war die Welt in Ordnung. Ich hingegen hatte nur das beklemmende Gefühl, ein schwarzes Nichts an ihrer statt zu sehen... es war richtig gruselig.

Ich lag noch lange wach und versuchte das ungute Gefühl zu bestimmen. Der stolze Papa und Valentina waren unlängst im Land der Träume und hatten keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob Robert mich in der Hinsicht soweit versteht – ach, ich erkenn mich ja selbst kaum wieder. Für ihn ging die Welt am nächsten Morgen weiter, während ich mich mehr und mehr der Schwermut hingab. Letzte Woche war alles noch so heiter, fröhlich, schön und seit ein paar Tagen... vielleicht ist eine posttraumatische Depression? Klingt doch logisch, oder warum sehe ich sonst schwarze Schatten und gewisse Menschen, die eigentlich garantiert tot sein sollten?

Ich brauchte dringend etwas Lebendes und so brachte ein Besuch auf Jacobs Hof zumindest ein wenig Aufmunterung, dessen Schweine zurzeit nämlich viele süße Ferkel haben. Ich schnappte mir Valentina und zusammen verbrachten wir den halben Tag im Stall! Ich bin gerne bei meinem Bruder – natürlich auch wegen Emil. Ich fühl mich bei Jacob ihm immer in die Zeit zurück versetzt. Und ein Stückchen Zukunft zu erblicken, erfreut mich stets mit ungemeiner Freude. Deswegen tat es mir auch sehr gut, meinen Bruder und die kleinen rosa Schweinchen zu sehen, die gerade tags darauf zuvor geboren worden waren. Meine Kleine hing über dem Geländer und wollte immer nach ihnen greifen. Ich musste echt aufpassen, dass ich sie nicht aus Versehen fallen ließ. Sie quietschte nämlich mit den Schweinen im Chor, sodass wir vom Hören her zumindest keinen Unterschied hätten entdecken können. Dann würde sie womöglich noch in Roberts Küche laden und er würde sich über das besonders zarte Popöchen wundern. Wir mussten lachen, so richtig herzhaft – es war ein schöner Tag, der vieles vergessen ließ. Auch den Umstand, dass es Nutztiere waren und nicht nur aus Spaß an der reinen Freude gezüchtet wurden. Aber Jacob spielte mit dem Gedanken, bei einigen Wettbewerben mal mitmachen zu wollen – das Preisgeld könne er schließlich gut gebrauchen und würde den Marktwert seiner Tiere immens steigern.



Wir nutzten die Gelegenheit und ließen uns vom stolzen Bauer noch rumführen. Mit einigen Baumaßnahmen nach Debbies Plänen war er bereits fertig, hier und da und praktisch überall musste aber noch viel getan werden. Mein Bruder zieht es nun mal vor, so viel wie möglich mit seinen eigenen Händen zu bauen, damit konnten er und seine Freundin auch gut leben – es ging zwar langsam, aber stetig vorwärts. Den Charme eines urigen Bauernhofes hat das Gelände immer noch und soll diesen auch behalten. Ich fand es sehr interessant, versteckte Winkel zu entdecken und interessante Geschichten von ihm zu hören. Valentina indes mutierte zu einem Naturkind, hinter welches ich immer herrennen musste, weil sie sonst alles in den Mund gesteckt hätte… angefangen von einer kleinen Kellerassel, über Körnerschrot bis hin zum Kuhschwanz, und am Ende des Tages war sie reif für die Waschmaschine mit Schleudergang. Schließlich musste sie für die große Feier am nächsten Tag für ihren Papi hübsch aussehen.

Also hieß es ab mit ihr die Badewanne. Dreckfink hinein, Goldspatz wieder raus und anschließend das Bad von der Sintflut befreien. Danach war ich noch Stunden damit beschäftigt, die Bude auf Vordermann zu bringen. Hier läuft man sehr schnell Gefahr, auf eines von Valentinas Spielsachen zu treten und darauf auszurutschen, während sie schon das nächste Kuscheltier von A nach B schleppt. Sollten sich wirklich Gäste hier hoch verirren und denen geschieht dann was, wäre das nicht gerade förderlich. Eigentlich hätte Robert ja schon längst Feierabend haben sollen, damit wir gemeinsam unserer kleinen Tochter noch eine Gute-Nacht-Geschichte von Romeo, dem Waschbären, der unsterblich in die Häsin Julia verknallt ist, erzählen konnten. Doch er kam nicht. Selbst übers Handy konnte ich ihn nicht erreichen. Ich wurde schon leicht nervös. Aber als ich mich entschloss, allein den Sandmann zu spielen, fand ich die Prinzessin ganz unedel bereits am Boden zwischen all ihren Teddys schlafend vor. Sie schlummerte so tief, da hätte nur ein Märchenprinz geholfen. Wobei… der kann bitte noch etwas auf sich warten lassen. Aber Kinder werden ja heutzutage so schnell erwachsen. Ich hob sie hoch und legte sie sachte ins Bettchen. Eine Weile hockte ich daneben und schaute ihr beim Träumen zu. Wie ich sie anschaute und ihre kleinen blonden Löckchen strich, kamen mir all die schlimmen Dinge in Erinnerung, die ihr seit ihrer folgenschweren Geburt wiederfahren waren. Hier in Verona hat sie es nun besser… hoffentlich. Abgesehen vom Tod ihrer leiblichen Mutter steckte hinter jedem Übel irgendeine kranke Phantasie von Barbara von Heidenberg. Der schmierige Alain Briand, dieser Alaaaaiiin. Der vergiftete Babybrei, den sie aus welchen Gründen auch immer noch rechtszeitig wieder verschwinden ließ. Oder generell ihr Versuch, sich Valentina zu schnappen, wo ihr letztlich jedes Mittel recht schien.

Bevor ich mich von der vollends runterziehen ließ, ging ich runter. Es war ziemlich still im Treppenhaus und auch am Privateingang – von drinnen drang ebenfalls kein Ton raus. Mir schossen Tausend Möglichkeiten durch den Kopf, wieso weshalb warum. Ich schlich förmlich durch die Gänge. Die meisten Lichter waren schon aus, kein Gast saß mehr an einen der vielen Tische. Die Tür zum Weinkeller war abgeschlossen, so blieb nur noch die Küche! Ich war wirklich auf das Schlimmste vorbereitet oder sah mich doch in den dunklen Gewölben unten rumirren auf der Suche nach Robert. Aber da saß er, auf einem Stuhl neben dem Ofen und auf der Ablage eine teure, angefangene Flasche Wein. In der Hoffnung, dass es nicht schon die 4. oder 5. Flasche war, ging ich zu ihm. Er war so weit weg, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie ich direkt vor ihm stand. Dann blickte er hoch, sah mich, blinzelte dann und stellte traurig fest, dass er die allabendliche Geschichte für Valentina verpasst hat. Darüber musste ich schmunzeln. Ich machte es mich auf seinem Schoß gemütlich, trank einen Schluck aus seinem Glas und tröstete ihn damit, dass die Prinzessin sie auch verpasst hat, weil sie schon vorher eingeschlafen war. Aber das hellte seine Stimmung nicht sonderlich auf, er blieb leicht lethargisch. Die ganze Vorarbeit für den Event war abgeschlossen, deswegen war er noch in der Küche. Er wollte es unbedingt perfekt haben, es sollte nichts schief gehen.

Und seine Vorbereitungen waren Goldwert und zahlten sich am Ende aus, denn es war ein rauschendes Fest mit all den leckeren Dingen, weswegen seine Kochkunst und das „12 Apostoli“ so hoch gepriesen wurden. Das Restaurant wurde überrannt und das Personal hatte alle Hände voll zu tun. Ein paar Presseleute waren ebenfalls gekommen und interviewten meinen Mann. Bei einigen stand ich daneben und spürte seinen festen Griff an meiner Hand, weil er so nervös war. Dann war ich es jedoch, die sich an ihn klammerte. Zwischen all den Menschen, die ins Restaurant reinwollten, sah ich wieder diese Frau. Es war nur ein kurzer Hasch, aber ich sah sie. Ganz bestimmt. Ich glaube, es war die gleiche wie schon zur Modenschau – zumindest sahen sie sich ähnlich. Und wenn es die ist, von der ich glaube, dass sie es ist, dann war es dieselbe. Aber wie konnte das sein, sie war doch tot?! Oder sehe ich schon Geister? Jedenfalls war der Tag für mich gelaufen, denn ich war für nichts mehr zu gebrauchen. Am liebsten wollte ich wegrennen, so weit wie irgend möglich, Hauptsache weg. Gleichzeitig wollte ich wissen, ob ich mich nur verguckt hatte, denn schließlich war das die einzig logische Erklärung. Aber denk mal nicht, dass ich sie nochmal wieder sah. Ich hielt überall nach ihr Ausschau, aber nichts da. Als ob sie wie vom Erdboden verschwunden sei. Na gut, Geister können das. Aber wie gesagt, der Tag war gelaufen. Und auch Robert hatte bemerkt, dass ich nicht bei der Sache war. Er war ein bisschen stinkig deswegen, aber das war mir egal. Und das wird mir auch egal bleiben. Denn entweder fang ich an, komplett durchzudrehen, oder die Frau, die ich ständig zu sehen glaube, ist tatsächlich Barbara.

Nun renn ich also im Schlafzimmer auf und ab und grüble die ganze Zeit, ob die Polizei damals was von einer Schusswunde erzählt hatte. Bei der Schießerei mit Robert, als Barbara mich entführt hatte und als Austausch dafür Valentina wollte, wurde sie doch verletzt. Müsste das bei der Leiche nicht festgestellt worden sein? Oh Gott, vielleicht ist sie gar nicht tot? Oder doch? Nein, Moment, beim Flugzeugabsturz wurde sie doch bis auf die Unkenntlichkeit verbrannt. Da lässt sich so eine Schusswunde bestimmt nicht mehr feststellen… ok, ja, das macht Sinn! Ich sollte echt aufhören, über solche Dinge zu spekulieren. Wir sollten uns endlich diesen Hund anschaffen!

Oh, ich habe gerade einen von Valentinas Schnullern entdeckt! Den werde ich jetzt erst einmal abwaschen. Also, bis dann…

Deine